Choreografie: Boris

Charmatz

Improvisation

Boris Charmatz behält die Improvisation wie das Zuhören oder die Osmose trotz einer gewissen Voreingenommenheit gegen diese Praxis im Blick. Für den Künstler sind die Musikerinnen und Musiker nicht nur dafür da, den Ton anzugeben, und die Tänzerinnen und Tänzer nicht nur dafür, „das Bild“ zu machen. Ihr symbolischer Raum ist zwar unterschiedlich, aber die Improvisation schafft ein neutrales Terrain, das auf jede nur erdenkliche Weise zu mehreren besetzt werden muss.

In der Musik wie im Tanz ist die Improvisation ein gemeinsamer Motor der Kreativität. Boris Charmatz hat sich im Laufe seiner Karriere regelmäßig an temporären Formen beteiligt, bei denen Künstlerinnen und Künstler mit unterschiedlichen Medien, Schreibweisen und besonderen Universen für die Dauer einer Improvisation zusammenkamen. Neben Improvisationen mit anderen Choreografen wie Meg Stuart improvisiert Boris Charmatz auch regelmäßig mit Musikerinnen und Musikern. Beispiele dafür sind die Improvisationen mit Hans Bennink, Archie Shepp oder auch Saul Williams im Rahmen von Jazz à la Villette (2006). Das Improvisationsprojekt mit Médéric Collignon ist langfristig angelegt und hat den einfachen Titel Improvisation. Beide bringen ihr gemeinsames Potenzial – ihr technisches Können und ihren tiefen Sinn für Ironie – in eine strukturierte und ständig erneuerte Improvisation ein. Die tänzerische Geste und die Taschentrompete sind natürlich präsent, lassen aber auch Platz für die Elektronik, die gesprochene, gesungene oder vokalisierte Stimme, das Gestikulieren und das Aufstampfen. Die explorativen Mittel sind in diesem Improvisationsduo extrem breit gefächert und äußern sich ganz unmittelbar in spontanen, aufeinander abgestimmten Ausdrucksformen.

Auszug aus dem Artikel Improvisation zu Numéridanse

 

„Boris Charmatz ist für Médéric Collignon, was der Tanz für die Musik ist. Nein, das trifft es nicht. Médéric Collignon ist für den Tanz, was Boris Charmatz für ..., nein, das trifft es auch nicht. Nochmal von vorn. Boris Collignon ... Na ja, so in der Richtung eben …

Beide haben in der Tat vieles gemeinsam: die technische Perfektion und einen umwerfenden Sinn für Ironie und Selbstironie, eine wohltuende Disziplinlosigkeit, eine angeborene Klaustrophobie, die sie von den allgemein üblichen Orten ihrer Kunst weit weg treibt. Eine tiefe Empfindsamkeit, vor der sie sich schützen, indem sie sich exponieren: maximales Risiko, Seiltänzer ohne Netz. Mechanische Körper, organische Körper, ungehorsame Körper – das hatten sie uns heute Abend zu bieten. Sich an vorbehaltene Wirkungsbereiche zu halten kam nicht in Frage: Sie sind zusammen, und zusammen haben sie Spaß, tun sich weh, bringen sich/uns zum Lachen und zum Zähneknirschen. Die Elektronik, die Taschentrompete, [...], die improvisierte, gesungene, vokalisierte, abgehackte oder als automatische Textansage gesprochene Stimme, sie lassen nichts aus, von der Pas de deux-Parodie bis zum Reggae à la Truffaz, von Human Beatbox bis zu krampfgeschüttelten Kriechbewegungen.

Ein großes Stück körperlichen und künstlerischen Engagements, eine Stunde der Symbiose zweier Künstler. [...]“

Diane Gastellu, Citizen Jazz, 4. September 2008

 

„Die ersten schrillen Töne des Dudelsacks erklingen im Halbdunkel. Der Instrumentalist läuft hin und her, ohne außer Atem zu kommen. Auf der linken Seite der Bühne schlägt die Silhouette eines am Boden liegenden Mannes mit der Ferse den Takt. Im schärfer werdenden Licht erkennt man Boris Charmatz, der damit beschäftigt ist, weiße Papierblätter zu kauen und herunterzuschlucken. Mit anderen Worten: Der Eine bläst, während der Andere erstickt.

Mehr als fünfundvierzig Minuten lang geht dem Dudelsack die Luft nicht aus. Der Tänzer ist wie in Trance, entkleidet sich und bewegt sich dann mit aufreizendem Hüftschwung am Boden entlang. Wie er sein Schambein am Boden reibt, den Mund voll weißer Papierseiten, erinnert er uns an Nijinskys Faun, auf dem Schleier der Nymphe liegend, den er neu interpretiert hat. Von einer Geste zur anderen nimmt die Zahl der historischen Referenzen zu. Mit ihm allein nimmt das Musée de la danse vor unseren Augen Gestalt an. Wenn der Musiker einen sich wiederholenden Ton hält und Charmatz sich wie Lucinda Childs bewegt, denkt man an Einstein on the beach, die herausragende Inszenierung von Bob Wilson. Dann wirft Charmatz in schwarzem Slip trotz des Papiers, das er ununterbrochen herunterschluckt, seinen ganzen Körper in die Schlacht, in einem merkwürdigen Wettstreit mit seinem Partner, der nicht mit vollem Mund spielt. Am Ende spricht Charmatz, vom „Knebel“ befreit, über ein mögliches Museum des Tanzes in Akten, genau hier, auf dieser Bühne. Nachdem er noch ein paar Runden auf der Bühne gedreht hat, gibt er unter den Augen von Erwan Keravec, der vom vielen Dudelsack-Blasen hochrot im Gesicht ist, noch ein paar Einblicke in sein grundlegendes Projekt. Boris Charmatz verfolgt beharrlich dieses Ziel, das ihm seit Jahren am Herzen liegt und von dem er keinen Zollbreit abrückt.“

Muriel Steinmetz, L’Humanité, 4. März 2013

Improvisation Improvisation Improvisation Improvis

Konzept

Leitung der Produktion

Sandra Neuveut

Martina Hochmuth

Amélie-Anne Chapelain

Produktion

Musée de la danse / Centre Chorégraphique National de Rennes et de Bretagne – Leitung: Boris Charmatz. Gefördert durch das Ministère de la Culture et de la Communication (Direction Régionale des Affaires Culturelles / Bretagne), die Stadt Rennes, den Regionalrat der Bretagne und den Generalrat von Ille-et-Vilaine.
 Das Institut français unterstützt regelmäßig die internationalen Tourneen des Musée de la danse.

Uraufführung

8. Nov 2011, Urban Connections, Chamarande

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